Eva schläft

Die Teilnehmerinnen des Literaturkreises äußerten, dass sie durch diesen Roman viele Informationen über die Geschichte Südtiros erhalten hätten. Ihre Kenntnisse über die Abtrennung Südtirols von Österreich im Jahre 1919 und seine Angliederung an Italien seien ungenau gewesen.

In dem Roman „Eva schläft“ (erschienen im Jahre 2010) umreißt Francesca Melandri die historischen Ereignisse. Aus der Perspektive der deutschsprachigen Südtiroler schildert sie die dominierende Rolle Italiens, das die Südtiroler Minderheit nach der Niederlage Österreichs im ersten Weltkrieg gewaltsam italianisieren möchte. Die deutsche Sprache wird in der Zeit des faschistischen Italiens in Schulen und Behörden verboten, deutschsprachige Beamte und Staatsbedienstete werden durch Italiener ersetzt, au-ßerdem werden Italiener in Südtirol angesiedelt.

Diese Zwangsmaßnahmen rufen in der Südtiroler Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg in den fünfziger Jahren schließlich offenen Widerstand hervor, der sich in Bom-benattentaten und Anschlägen manifestiert. Erst im Jahr 1972 wird der Region ein Autonomiestatus zugestanden, dadurch erhält Südtirol eine weitgehend Selbstverwal-tung. Francesca Melandri versteht es in ihrem Roman, die Ge-schichte Südtirols lebendig werden zu lassen. Die Familiengeschichte der Bauernfamilie Huber spielt sich parallel zu der Geschichte Südtirols ab. Gerda, die Tochter eines Bauern, der seinen Hof durch die wechselvollen Geschehnisse verloren hat, muss sich in ganz jungen Jahren als Hilfskraft in einer Hotelküche verdingen. Als Mutter eines unehelichen Kindes wird sie von ihrem Vater verstoßen und erfährt soziale Ausgrenzung. Um ihre Arbeit nicht zu verlieren, muss sie Eva, ihre kleine Tochter, in Pflege geben.

Gerdas Bruder, der einer Widerstandsgruppe gegen den italienischen Staat angehört, stirbt während eines Bombenattentats. Ein Hoffnungsschimmer zeichnet sich ab, als Gerda sich in Vito, einen Carabinieri aus Süditalien, verliebt. Vito bekennt sich zunächst aufrichtig zu Gerda und ihrem unehelichen Kind, das er wie ein Vater annimmt. Die Beziehung scheitert letztendlich an politischen und sozialen Widerständen. Ihm würde die Entlassung aus dem Staatsdienst drohen, wenn er die Schwester eines Südtiroler Terroristen heiraten würde. Seine Mutter in Kalabrien empfindet die Eheschließung mit einer unehelichen Mutter in ihrer Gesellschaft als nicht vertretbar.

Die Teilnehmerinnen des Literaturkreises waren sich einig, dass Francesca Melandri die geschichtlichen Fakten eindrucksvoll durch die fiktive Romanhandlung verdeutlicht hat und die Diskrepanz zwischen unterschiedlichen Sprachen und politischen Konzeptionen spürbar werden lassen hat. Unterschiedliche Aufassungen gab es bei der Frage, inwieweit Gerda und ihre Tochter Eva sich aus den Zwängen und Vorgaben befreien können. Gerda zeigt als ledige Mutter viel Kraft, Unabhängigkeit und Entschlossenheit. Eva entscheidet sich selbst, sie spricht Deutsch und Italienisch. Sie führt ein unabhängiges und selbständiges Leben. Sie verzichtet allerdings auf persönliche Bindungen.

ASTRID WESSERLING