Literaturkreis

Nachdem sich bereits das CC-Kulturcafé am 17. November 2022 mit der Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux beschäftigt hatte (siehe den Bericht in der Dezember-Ausgabe des CC-Kuriers, S. 18) ging es diesmal unter der Leitung von Astrid Wesserling um Ernauxs Werk „Die Jahre.“

In eindringlicher Schlichtheit verfasst Ernaux eine „un- persönliche“ Biographie, in der man sich als Mensch unserer Zeit trotz der auf Frankreich bezogenen Verhältnisse gut wiedererkennt. Durch das verwendete Impar- fait wird erkennbar, dass es um eine unabgeschlossene Handlung geht, um einen Zustand, um etwas sich Wie- derholendes. In distanzierender Selbstbeobachtung beschreibt Ernaux in der 3. Person ihre Sicht von außen, z. B. anhand von Fotos, Tagebucheinträgen und Zeitungsartikeln, im Stil einer Collage. Dabei vermischt sie in einem Mosaik feiner Beobachtungen Individuelles und Allgemeines zu einer kollektiven Erfahrung. Bedeutsam sind hier die im- mer wiederkehrenden, strukturierenden Familienessen und das Resümée im letzten Treffen dieser Art: „Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“ Erst der Schluss wird persönlicher und weist auf die Selbst- findung der Autorin hin.

Bemerkenswert fanden die Teilnehmerinnen des Literaturkreises Ernauxs Aufstieg aus der Arbeiterklasse in die Bougeoisie. Erstaunen löste Ernauxs Bemerkung über Putin aus, der als „kleiner, eiskalter Mann“ dargestellt wurde, der versprach, „Tschetschenen notfalls auf dem Klo abzuknallen.“ Ernauxs bekannter Anti-Amerikanismus wurde deutlich in ihrer Darstellung der USA als ein gigantischer Baum, der seine Äste über die ganze Erdkugel erstrecke, sich nur auf Wirtschaftskraft stütze und allein an Waffen und Öl glaube. Sehr befremdlich fanden die Teilnehmerinnen Ernauxs radikale Haltung zu den Geschehnissen am 11.9.2001: „Für irgendetwas mussten sie bezahlen.“

Ernauxs politische Einstellung und ihre oft eher sozio- logische als literarische Darstellungsweise wurden im Gespräch kontrovers diskutiert. Ihre eindringliche Auf- forderung zur Selbstbesinnung jedoch wurde als beeindruckend empfunden. Ein lesenswertes Gesellschaftsporträt, eine universelle Chronik!. RENATE KRAUSE-ISERMANN